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Ich schließe meine Augen, kneife sie fest zusammen. Die kühle salzfeuchte Frische von Meeresluft legt sich auf meine Haut. Ein melodisches Kirchengeläut vibriert in meinen Lungen. Ich atme tief ein, mein Blut nimmt den Klang auf eine Reise durch meine klammen Arme und Beine. Der Wind trägt das Geräusch von leisen Gesprächen und frohem Gelächter heran. Ich bin auf dem Delfter Marktplatz. Wenn ich die Augen schließe, ist es fast so, als hätte ich seit Jahrhunderten hier gestanden. Im Geiste sehe ich die Fischstände mit den Frauen in den weißen Hauben und raschelnden Röcken und die Käseräder, stelle mir vor, wie der Tuchhändler damals wie heute im Singsang seinen butterzarten Samt bewirbt; die Häuser seit eh und je schief die Gassen einrahmend. Am ganzen Körper stellen sich mir die Haare auf, ich bin erfüllt, so lange habe ich es mir gewünscht, hier zu sein.
Dieser Reisebericht umschreibt unsere Rundreise der Niederlande, zum Subjekt von Interesse erkoren aus Neugierde über Land und Leute. Ein Überblick über unsere Stationen: Wir besichtigten die Städte Breda, Dordrecht, Delft, Tilburg, Gouda und das Dorf Nuenen — so haben wir eine Vielfalt der Niederlande erlebt. Darüber hinaus besuchten wir den Nationalpark De Biesbosch, unternahmen einen Ausflugstag an die Atlantikküste und staunten über die berühmten Kinderdijk Molens. Mit Fug und Recht behaupten wir nun durchaus, die Niederlande und die Niederländer zu kennen. Im Folgenden möchte ich einige Gedanken einrahmen.
Andys Interesse am Land bestand zu allererst angeltechnisch. In der Fischerwelt ist gemeinhin bekannt, dass in den Gewässern der zerfurchten Landschaft (Meerschaft?) eine große Artenvielfalt herrscht, im wahrsten Sinne des Wortes: durchschnittliche Zander- und Hechtfänge erreichen oft das doppelte Maß im Vergleich hierzulande. Man stelle sich also vor, wie sich Andy mit leuchtenden Augen in den Keller verzieht, um seine Ruten zu frisieren. Die Ironie des Schicksal wollte es aber so, dass unsere Reise in genau den üblichen Zeitraum fiel, in der das Fischen in der gesamten Niederlande zu Zwecken der Bestandsschonung verboten ist. Also kein Angeln im Polder – sorry, Andy! Blöd gelaufen. Wir kommen sicher wieder.
Also keine Fische. Stattdessen, stets und ständig, in allen Orten und tatsächlich einfach überall: Vögel. In der Heimat ist es rar geworden, Kollegen von Spatz, Taube und Krähe anzutreffen. Nicht hier. Grau- und Kanadagänse heißen uns in Breda willkommen. Ulkig, hier gibt es auch freilaufende Hühner, mitten im Stadtpark. Nicht nur die Enten sind hier dunkler und bunter, auch die städtischen Krähen sehen hier ganz anders aus als zuhause. Versteckt im Wildwuchs zwischen den weiten Felderparzellen erspähen wir sogar einen echten Fasan und seine Dame. An der Küste erneut Gänse, aber auch zahlreiche Möwenarten, Strandläuferhorden und schüchterne Austernfischer.
Zwei Aspekte dominieren im Wechsel unseren Aufenthalt: Natur und Kultur. Den Niederländern scheint die Gratwanderung zu gelingen, den historischen Bestand zu pflegen und dennoch den Bezug zum Modernen zu behalten, alles im Einklang mit der so prägenden und geprägten Landschaft. Sehr lebens-, oder doch eher todesnah, fühlt es sich an, auf das Einschussloch zu schauen, durch das einst die revolutionäre Kugel brach, die Willem van Oranje ermordete; nur um ihn wenige Minuten später schlafend vor sich zu sehen - steinern verewigt im Grabmal mit dem treuen Gefährten zu den Füßen. Es wird einem sogar etwas flau im Magen, wenn man weiter über die abgetretenen Kirchengräber schreitet, auf den Schriftzug Jan Vermeer herabschaut, den Blick über all die Schädel und Knochen gleiten lässt, und die allgegenwärtige Realisation schwebt in der Luft. Für jeden nimmt die Reise irgendwann ein Ende.
Kehren wir für einen Augenblick zu meiner Delfter Marktfantasie zurück.
Ich erwähnte Stoff, Käse, Fisch, doch eine typisch niederländische Sitte fehlt. Von Tulpen ist die Rede! Die Niederländer Altkünstler sind für dreierlei Motive bekannt: atemberaubende Landschaftsmalereien, edle Portraits des Goldenen Zeitalters, und die üppigen Stillleben voller exotischer Bouquets. 1619 zeigt Jacob Vosmaer die eindrucksvolle Blütenmanie in Öl auf Leinwand mit wild gestreiften Tulpen, wallend und zartblättrig. Auch hier im Prinsenhof wieder Kultur und Natur im Einklang. Ein Schild verrät uns, dass der Besitzer auf diese Weise auch im Winter den luxuriösen Anblick der Pflanzen genießen konnte. Gleich nebenan ein Rebhuhn, theatralisch drapiert, und am anderen Ende des Ganges die Porträts reicher Bürger in der typischen weißen Halskrause auf schwarzem Ensemble.
In Nuenen, dem Heimatdorf des berühmten Van Gogh, wandeln wir auf ebendessen Spuren. Hier hat Van Gogh nach vielen mühseligen Studien im Jahr 1885 sein erstes großes Gemälde geschaffen: Die Kartoffelesser. Damit hat er die Welt der armen, aber seelenreichen Bauern des Dorfes verewigt. Im Dorf ermöglicht es ein Wanderweg, exakte Ausschnitte aus Vincents Werken mit den eigenen Augen nachzuempfinden. Wir sehen die noch immer am selben Tümpel schlafende, knüppelige, typisch holländische Weide, deckungsgleich mit einer Skizze, die wir zuvor noch im Vincentre entdeckten. Das Museum in Nuenen ist lobenden Wortes zu empfehlen, denn die Ausstellung ist sehr liebevoll gestaltet. Man spürt den Versuch zur Zartheit, den Versuch, dem im Leben verkannten Nationalkünstler zumindest heute gerecht zu werden. Vincent van Gogh und seine Werke haben einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil mich die raue Misere seiner Existenz tief berührt. “Die Traurigkeit wird ewig dauern.”, soll er gesagt haben. Doch im Museum gibt es eine filmische Inszenierung, in der kein kummervoller, sondern ein purer, zielstrebender, es-kaum-erwarten-könnender Vincent im Rausch der Kreation eifert. “Ich werde es schaffen! Ich werde dieses Bild malen.”, manifestiert die Figur im Film, und ich weine.
Bezüglich der Landschaftsmalerei mache ich folgende unnötige Bemerkung: es sieht hier tatsächlich so aus. Schaut man auf dem Land gerade hinaus in die Welt hinein, so sieht man genau jene wilden Wolkentürme auf graublauem Himmel, ebensolche spitzen Weiden und weiche Gräben wie aus den Gemälden, und ja, in echt ist es wirklich alles sehr flach. Diese Waagerechte wird nur ab und zu durchbrochen, durch schiefe Kirchentürme zum Beispiel, oder kugelrunde quietschrote Käseräder, oder majestätische Windmühlen. Aber keine Sorge! Hier kann man die Orientierung schwer verlieren. Wendet man sich der Küste zu, hat man sie gleich wieder gefunden, die Waagerechte. Man muss nur aufpassen, dass man nicht über die vielen messerscharfen Austernschalen stolpert. Hätten wir doch nur ein paar Klompen mitgenommen!