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Drei schmale, langgezogene Häuser in Dordrecht, Kanalwasser zu Füßen

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Auf Achse
14. April 2022

Käse, Kirchen, Klompen —
Nederlandse Indrukken

Ich schließe meine Augen, kneife sie fest zusammen. Die kühle salzfeuchte Frische von Meeresluft legt sich auf meine Haut. Ein melodisches Kirchengeläut vibriert in meinen Lungen. Ich atme tief ein, mein Blut nimmt den Klang auf eine Reise durch meine klammen Arme und Beine. Der Wind trägt das Geräusch von leisen Gesprächen und frohem Gelächter heran. Ich bin auf dem Delfter Marktplatz. Wenn ich die Augen schließe, ist es fast so, als hätte ich seit Jahrhunderten hier gestanden. Im Geiste sehe ich die Fischstände mit den Frauen in den weißen Hauben und raschelnden Röcken und die Käseräder, stelle mir vor, wie der Tuchhändler damals wie heute im Singsang seinen butterzarten Samt bewirbt; die Häuser seit eh und je schief die Gassen einrahmend.

Dieser Reisebericht umschreibt unsere Rundreise durch das alte Holland. Ein Überblick über unsere Stationen: Wir besichtigten die Städte Breda, Dordrecht, Delft, Tilburg, Gouda und das Dorf Nuenen — so haben wir eine Vielfalt der Niederlande erlebt. Darüber hinaus besuchten wir den Nationalpark De Biesbosch, unternahmen einen Ausflugstag an die Atlantikküste und staunten über die berühmten Kinderdijk Molens. Mit Fug und Recht behaupten wir nun durchaus, die Niederlande und die Niederländer kennengelernt zu haben. Im Folgenden möchte ich einige Gedanken einrahmen.

illustrierte Karte der Niederlanden mit markierten Reisestationen
Kartenasicht der Reiseziele
Küstenläufer viele kleine Vögel sitzen an einer Steinküste am Atlantik

Andys Interesse am Land bestand zu allererst angeltechnisch. In der Fischerwelt ist gemeinhin bekannt, dass in den Gewässern der zerfurchten Landschaft (Meerschaft?) eine große Artenvielfalt herrscht, im wahrsten Sinne des Wortes. Durchschnittliche Zander- und Hechtfänge erreichen oft das doppelte Maß im Vergleich hierzulande. Man stelle sich also vor, wie sich Andy mit leuchtenden Augen in den Keller verzieht, um seine Ruten zu frisieren. Die Ironie des Schicksal wollte es aber so, dass unsere Reise in genau den üblichen Zeitraum fiel, in der das Fischen in der gesamten Niederlande zu Zwecken der Bestandsschonung verboten ist. Also kein Angeln im Polder – sorry, Andy! Blöd gelaufen. Wir kommen sicher wieder.

Also keine Fische. Stattdessen, stets und ständig, in allen Orten und tatsächlich einfach überall: Vögel. In der Heimat ist es rar geworden, Kollegen von Spatz, Taube und Krähe anzutreffen. Nicht hier. Grau- und Kanadagänse heißen uns in Breda willkommen. Ulkig, hier gibt es auch freilaufende Hühner, mitten im Stadtpark. Nicht nur die Enten sind hier dunkler und bunter, auch die städtischen Krähen sehen hier ganz anders aus als zuhause. Versteckt im Wildwuchs zwischen den weiten Feldparzellen erspähen wir sogar einen echten Fasan und seine Dame. An der Küste erneut Gänse, aber auch zahlreiche Möwenarten, Strandläuferhorden und schüchterne Austernfischer.

Eine Schar fliegender Gänse im HimmelZwei Kanadische Gänse im Stadtpark BredaKormoran auf einem Weidezaun im Nationalpark De BiesboschFrischer Rotbarsch auf dem Delfter MarktEine Gänsefamilie mit jungen Küken schwimmt im Wasser bei Kinderdijk
Wasserwelt Niederlande: Gänsescharen, Kormoran in de Biesbosch, frischer Fisch auf dem Delfter Markt

Zwei Aspekte dominieren im Wechsel unseren Aufenthalt: Natur und Kultur. Den Niederländern scheint die Gratwanderung zu gelingen, den historischen Bestand zu pflegen und dennoch die Moderne zu fördern, alles im Einklang mit der so prägenden und geprägten Landschaft. Sehr lebens-, oder doch eher todesnah, fühlt es sich an, auf das Einschussloch zu schauen, durch das einst die revolutionäre Kugel brach, die Willem van Oranje ermordete; nur um ihn wenige Minuten später schlafend vor sich zu sehen - steinern verewigt im Grabmal mit dem treuen Gefährten zu den Füßen. Es wird einem sogar etwas flau im Magen, wenn man weiter über die abgetretenen Kirchengräber schreitet, auf den Schriftzug Jan Vermeer herabschaut, den Blick über all die Schädel und Knochen gleiten lässt, und die allgegenwärtige Realisation schwebt in der Luft. Für jeden nimmt die Reise irgendwann ein Ende.

Schädelskulptur am Grabmal Wilhelm I. in der Nieuwe Kerk in Delft
Grabmal von Wilhelm I. in Delft
Willem van Aelst Gemälde Jagdstillleben mit totem Rebhuhn von 1668
Jagdstillleben (Van Aelst, 1668)
Schädelrelief auf einem Grabmal der Liebfrauenkirche in Dordrecht
Schädelrelief in Dordrecht
Gemälde Blumenstilleben von Jacob Vosmaer von 1619

Kehren wir für einen Augenblick zu meiner Delfter Marktfantasie zurück.
Ich erwähnte Stoff, Käse, Fisch, doch eine typisch niederländische Sitte fehlt.  Tulpen! Die Niederländer Altkünstler sind für dreierlei Motive bekannt:  atemberaubende Landschaftsmalereien, edle Portraits des Goldenen Zeitalters, und die üppigen Stillleben voller exotischer Bouquets. 1619 zeigt Jacob Vosmaer die eindrucksvolle  Blütenmanie in Öl auf Leinwand mit wild gestreiften Tulpen, wallend und zartblättrig. Auch hier im Prinsenhof wieder Kultur und Natur im Einklang. Ein Schild verrät uns, dass der Besitzer auf diese Weise auch im Winter den luxuriösen Anblick der Pflanzen genießen konnte. Gleich nebenan ein Rebhuhn, theatralisch drapiert, und am anderen Ende des Ganges die Porträts reicher Bürger in der typischen weißen Halskrause auf schwarzem Ensemble. 

Gemälde Portrait von Willem Reyersz. de Langue von Willem van der Vliet 1626
Jagdstillleben (Van Aelst, 1668)
Gemälde Portrait von Maria Jorisdr. Pijnaecker von Willem van der Vliet 1626
Jagdstillleben (Van Aelst, 1668)

In Nuenen, dem Heimatdorf des berühmten Van Gogh, wandeln wir auf ebendessen Spuren. Hier hat Van Gogh nach vielen mühseligen Studien im Jahr 1885 sein erstes großes Gemälde geschaffen: Die Kartoffelesser. Damit hat er die Welt der armen, aber seelenreichen Bauern des Dorfes verewigt. Im Dorf ermöglicht es ein Wanderweg, exakte Ausschnitte aus Vincents Werken mit den eigenen Augen nachzuempfinden. Wir sehen die noch immer am selben Tümpel schlafende, knüppelige, typisch holländische Weide, deckungsgleich mit einer Skizze, die wir zuvor noch im Vincentre entdeckten. Das Museum in Nuenen ist lobenden Wortes zu empfehlen, denn die Ausstellung ist sehr liebevoll gestaltet. Man spürt den Versuch zur Zartheit, den Versuch, dem im Leben verkannten Nationalkünstler zumindest heute gerecht zu werden. Vincent van Gogh und seine Werke haben einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil mich die raue Misere seiner Existenz tief berührt. “Die Traurigkeit wird ewig dauern.”, soll er gesagt haben. Doch im Museum gibt es eine filmische Inszenierung, in der kein kummervoller, sondern ein purer, zielstrebender, es-kaum-erwarten-könnender Vincent im Rausch der Kreation eifert. “Ich werde es schaffen! Ich werde dieses Bild malen.”, manifestiert die Figur im Film, und ich weine.

Van Gogh Kirche in Nuenen
Van-Gogh-Kirche Nuenen: Hier predigte Vincents Vater.
Quelle: Van Gogh Brabant, 2022
Gemälde Van Gogh Die Kirche von Nuenen mit Kirchgängern 1884
"Die Kirche von Nuenen mit Kirchgängern" (1884)
Quelle: Van Gogh Museum, 2022
Ausstellung Vincentre Nuenen
Interaktive Ausstellung im Vincentre: Vincents Freunde, Familie und Bekannte berichten aus ihrem Leben.
Quelle: Van Gogh Brabant, 2022
Landschaftsbilder der Mühlen bei Kinderdijk mit Wolkendecke, die sich auf dem Kanalwasser spiegelt

Bezüglich der Landschaftsmalerei mache ich folgende unnötige Bemerkung: es sieht hier tatsächlich so aus. Schaut man auf dem Land gerade hinaus in die Welt hinein, so sieht man genau jene wilden Wolkentürme auf graublauem Himmel, ebensolche spitzen Weiden und weiche Gräben wie aus den Gemälden, und ja, in echt ist es wirklich alles sehr flach. Diese Waagerechte wird nur ab und zu durchbrochen, durch schiefe Kirchentürme zum Beispiel, oder kugelrunde quietschrote Käseräder, oder majestätische Windmühlen. Aber keine Sorge! Hier kann man die Orientierung schwer verlieren. Wendet man sich der Küste zu, hat man sie gleich wieder gefunden, die Waagerechte. Man muss nur aufpassen, dass man nicht über die vielen messerscharfen Austernschalen stolpert. Hätten wir doch nur ein paar Klompen mitgenommen!

Niederländische Holzschuhe, genannt Klompen, in einer Holzkiste
Typische Niederländer Holzschuhe (klompen) in den noch heute bewohnten Kinderdijk Molens, UNESCO Welterbe
eine Käserad-Dekoration hängt von einem Ladenschirm herab. Darauf steht "Gouda 750"
Jubiläum für Gouda: Alles Gute zum 750sten Geburtstag!
Gemälde eines Mannes, der durch ein Loch in einer aufgeschlagenen Zeitung hindurchschaut, gefunden in Breda
Humor in Breda
Ein Hütehund treibt eine Schafsherde voran
Ein fleißiger Hütehund treibt die Schafsherde im Nationalpark De Biesbosch, inkl. schwarzem Schaf