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Eine frontale, ruhige Ölmalerei der Bronze-Skulptur von Käthe Kollwitz im Berliner Museum

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Nachgedacht
13. April 2023

Käthe Kollwitz, Fragen.

Eine frontale, ruhige Ölmalerei der Bronze-Skulptur von Käthe Kollwitz im Berliner Museum

Viele Emotionen habe ich gesammelt seit der Lektüre ihres Tagebuchs. Ein Besuch im Museum stärkt den Wunsch, meinen Eindruck über die Künstlerin zu verfassen. Sensiblen Menschen wird empfohlen, diesen Artikel zu überspringen, da er sich mit Trauer, Angst und Depressionen beschäftigt. Es folgt: Käthe Kollwitz, Fragen.

Hinweis: Alle in diesem Aufsatz zitierten Texte sind entnommen aus "Käthe Kollwitz. Die Tagebücher 1908 — 1943" von Jutta Bohnke-Kollwitz, btb Verlag Random House, 2. Auflage 2018. Link zum Buch
Es wird ein Scan einer Zeichnung von Käthe Kollwitz und ihrem verstorbenen Mann gezeigt, die dem Buch " Ich will wirken in dieser Zeit", Ullstein 2000, entspringt. Infos zum Buch
Alle in diesem Artikel dargestellten Abbildungen der Werke von Käthe Kollwitz entstammen meinen persönlichen Fotografien aus meinem Besuch des Käthe-Kollwitz-Museums in Berlin. Bitte besucht das Museum und macht Euch einen eigenen Eindruck!

Wie fange ich an? So viele Dinge.

Früher habe ich gern gezeichnet. Jetzt darf mein Bleistift nur noch ab und zu grobe Formen andeuten, bevor die Linien dann unter Farben verschwinden. Der Gedanke an stundenlanges Schraffieren ödet mich an. Im Gegensatz zu mir weiß Käthe schon früh, dass sie durch und durch Zeichnerin ist, dass ihr das Malen nicht liegt. Was gibt es für mich dann zu holen in Käthes Schwarz-auf-Weiß? Gerade dieser Unterschied fasziniert. Käthe spricht mit den einfachsten Mitteln: Punkt, Linie und Fläche.

Käthes Werk ist konzentriert. Es ist nicht gestelzt oder abgehoben. Zeichnet Käthe einen Akt, so zeichnet sie keine kugelrunden Brüste oder wolllüstige Diven; sie zeichnet eine Frau, frierend und unbequem, so wie sie eben dort in der Praxis steht. Zeichnet Käthe einen Armen, so sieht man keinen rettenden Sankt Martin, der den Mantel teilt, sondern den getriebenen Körper des unterdrückten Bauern. Ein sterbendes Kind liegt mit hohlen Wangen wie ein Geist in den Armen der Mutter, schwebt nicht als singendes klingendes Engelchen in einem strahlend blauen Himmel an der Hand des großen ausgedachten Mannes. Obwohl Käthes Motive alle sehr traurig sind, kann man nicht behaupten, dass sie nicht wahr wären. Sie sind echt und keine “Anekdoten”. 

Van Dyck: Sankt Martin, der den Mantel teilt, 1621. Gemälde
Sankt Martin, der den Mantel teilt (Van Dyck, 1621)
Quelle: Commons
Fotografie von Kollwitz Blatt 1 aus dem Weber-Zyklus: der Pflüger.Käthe Kollwitz Aktzeichnung einer Frau aus der Praxis ihres Mannes
Poussin: Mariä Himmelfahrt, etwa 1630. Gemälde
Mariä Himmelfahrt (Poussin, etwa 1630)
Quelle: Commons
Nahaufnahme einer Radierung von Käthe Kollwitz, in der man ein gespenstisches Kindergesicht erkennen kann
Fotografie im Berliner Museum, die Käthe und ihre beiden Söhne Hans und Peter zeigt

Ich stehe im warmen Dimmlicht der bodenständigen Ausstellung im neuen Gebäude nahe Charlottenburg.
Eine Kompanie hellholziger Rahmen umstellt mich, dunkelschwarze Drucke. Um mich wandeln die Besucher schweigend. Ab und zu schauen sie über die Schulter. Dann nicken sie und gehen ihrer Wege. Jemand hat seine Kleine mitgebracht, vielleicht ist sie vier Jahre alt. Der Vater erklärt ihr, wie ein Steindruck gemacht wird. Sie versteht von all dem nichts. Da liegt eine Reproduktion, es war mal ein Brief aus dem Feld. Eine hastige Schrägschrift steht darauf: “Zurück tot”.

Die Welt zu Kollwitz’ Zeiten wandelt sich mit einer ungesehenen Turbulenz. Man könnte meinen, es gibt kaum einen Schrecken der Menschheit, den sie nicht erlebt hätte. Zwei Weltkriege, politischer Terror, Hungersnöte, Kindersterben, neue Weltordnung. Käthe, ihre selbstbestimmte Aufgabe klar vor Augen, steht ruhig und fest inmitten des zerstörerischen Wirbelwinds, so scheint es, wenn man nur die fordernden Parolen auf den Plakaten überfliegt. Eine Stimme für die, die keine haben? Ehrlicherweise steht sie zumindest im Tagebuch zur Eitelkeit darüber, als Künstlerin gelobt und gebraucht sein zu wollen. Dochim Inneren sieht es anders aus.

Foto von Lisa Gawenda, die sich in den schwarzen Flächen von einem Druck von Käthe Kollwitz spiegelt.



“Wie ein verdorbener Magen. Kaum fängt man an zu essen, so schiebt man das Essen wieder fort. So, kaum fange ich an zu arbeiten, reizen mich die weiteren Stadien nicht mehr. Ein Ekelgefühl und Ungeduldgefühl tritt ein und ich breche ab. Ich sollte wirklich versuchen, disziplinierter zu arbeiten.”

Über das Tagebuch hinweg erlese ich neben Beobachtungen zur Zeit und derer Geschehen stets Mut und Unmut am eigenen Werk, an der eigenen Person. Können und Wollen, das sind eben zwei verschiedene Dinge, und erst recht in dieser so schwer zu begreifenden Zeit. Immer weiter entfernt sich der Frieden von einer Sache des Alltags, zu dem ursprünglichen man ohnehin nie wieder zurückfinden wird. Äußere und innere Umstände wiegen so schwer, dass das sinnlose Arbeiten unmöglich wird. “Jetzt ekelt mich meine Arbeit so, daß ich sie nicht sehen kann. Zugleich ein Versagen des ganzen Menschen. [...] Ich bin dumm und ohne Gedanken. Ich sehe nur Unerfreuliches.” Nach langer Tätigkeit besitzt Käthe einen bodenständigen Realismus über die Einschränkungen Ihres Alters, doch sie hadert mit der Arbeit, genauer gesagt: mit ihrem eigenen Können. Deswegen kommt das Scheitern an der selbst auferlegten Aufgabe vor wie eine persönliche Unfähigkeit. Käthe nutzt die Arbeit als Berufung, doch ist sie perfektionistisch und erkennt den bröckeligen Mörtel ihrer Mauer. Es ist nicht Fleiß, sondern Rastlosigkeit in ungewissen Zeiten. Der Sinn liegt im Etwas Tun, genauer gesagt im Etwas Wichtiges Tun. Deswegen schreibt sie: “Dann habe ich noch die Arbeit Gott sei Dank."

Frau Kollwitz sieht ihre Lebensaufgabe in der vollen Ausschöpfung ihres Berufs, da sie nun eine zerstörte Mutter ist. Stark und mahnend, graue Brauen über den ruhigen Augen. Sie ist der Meinung, “daß die Menschheit nicht vorangekommen wäre, wenn das Leben des Einzelnen immer an erster Stelle gestanden hätte.” Damit widerspricht sie dem Mann Karl, der die Lebensaufgabe des Menschen in der fortschreitenden Selbst-Existenz begreift, die nicht durch äußere Kräfte wie den Staat in Besitz genommen werden darf. Diese ist eine der Ansichten Käthes, die sich mir nicht erschließt.

Fotografie eines Selbstporträts von Käthe Kollwitz, eine Zeichnung, sie schaut den Betrachter an und hält eine Hand an die StirnNahaufnahme einer Radierung von Käthe Kollwitz, in der eine trauernde Mutter das tote Kind fest umschlossen hält

Ich stimme Karl zu. Inwiefern ist der Glaube an eine untergestellte Existenz zum Fortschritt der Allgemeinheit noch relevant im Zeitalter des Individualismus, einhundert Jahre später? Wie hätte sie wohl die so schwere Lebenszeit verkraftet ohne die Dringlichkeit ihrer Aufgabe? Kann ein derart fundamentales Gemeinschaftsverständnis überhaupt noch existieren, wäre meine Generation überhaupt noch bereit dazu? Wäre ich es?

Man kann Kollwitz’ Ausdruck, schützen zu wollen, in der Zeichnung nachempfinden, egal ob man ihren Lebenssinn teilt.
Man versteht das Bild, wenn die starken Arme die Kleinen umgreifen und die klammen Hände des Todes abwehren.
Man versteht den gleißenden, erdrückenden Schmerz um den Verlust. Man versteht die Freude an der Vertrautheit der Familie. Ist das etwa der gesellschaftliche Zusammenhalt, den Käthe meint, wenn sie sagt, das persönliche Leben muss hingegeben werden? Erst im fortgeschrittenen Alter zweifelt Käthe am Sinn ihres Arbeitens, quält sich: “Mach das – aber wenn du es nicht machst, schadet es auch nichts.” Vielleicht eine Erkenntnis, dass es keine große Lebenslösung gibt? Oder vielleicht, dass der Einzelne keine Rolle für das Große Ganze spielt. Karl, was sagst du dazu?

Käthes Fähigkeit, diese Bedenken in ihren Bildern auszudrücken, lässt mich ihre Motive verstehen. “Ich bin Träger und Entwickler eines Samenkorns”, schreibt sie, und erkennt darin eine Pflicht des Lebens, das Korn zur Entwicklung zu befähigen “bis in den letzten kleinen Zweig”. Ich staune über die hartnäckige Sicherheit ob dieser so oft wiederholten Botschaft. Ich weiß nicht, was meine Rolle ist, und ich weiß nicht, ob man in dem Gewusel der heutigen Zeit noch eine eindeutige Rolle einnehmen kann. Es schwant mir, dass die Beantwortung dieser Frage über den mir eigenen Zweck noch etwas Lebenszeit erfordert.

Foto von Käthe Kollwitz' Lebenslauf an einer Wand im Berliner Museum Lebenslauf von Käthe Kollwitz an einer Wand des Berliner Museums. Es zeigt den Tag, an dem ihr Ehemann starb, und ein Foto der beiden Eheleute
Ein Scan aus einer Buchseite gesammelter Tagebucheinträge von Käthe Kollwitz. Man sieht eine Zeichnung von Käthe und ihrem Mann.

Dann: Karl, der Lebensgefährte.  “Heut als ich von den Gängen mit Karl zurückkam und es war so halbes Frühlingswetter, das immer Träume macht, stand mir folgendes Altersbild vor [Augen]. Etwa von meinem 60. Jahr: Auf schwere künstlerische Arbeit kann ich dann nicht mehr rechnen, Karl und ich haben irgendwo in schöner Nähe – sagen wir Ferch – ein Häuschen mit Garten, Kartoffeläckerchen, wenigstens einem Hunde. Wir arbeiten im Garten und jeder für sich. [...] Vor allem leben wir in der Natur [...] Geld gehört zu dem Plan, aber wir werden dann schon Geld haben. – Bücher viele! [...] Das wär doch ein schönes Leben.” So ist man vom Schicksal gezwungen, die Welt in Trümmern erleben zu müssen. Da ist es doch lindernd, einen sicheren Halt im Ehemann zu finden, auch wenn der Traum für immer einer bleibt. Einige Tagebucheinträge zeigen eine kühle Nachdenklichkeit über die Beziehung, auch einige schwierige Engpässe. Und doch zeichnet Käthe noch zu ihrem Lebensabend ein herzzerreißendes Bild: Käthe und Karl, nebeneinander sitzend, eine Form, das gehört zusammen, ein Naturgesetz. Ich wünsche mir nichts sehnlicher auf dieser Welt: alt und gesättigt, gemeinsam auf unser Leben schauend, eindeutig zugehörig, geformt durch die gemeinsam beschrittenen Wege.

Nahaufnahme von Käthe Kollwitz' Zeichnungen, die ihren Mann Karl zeigenNahaufnahme einer Kohle-Zeichnung von Käthe Kollwitz, in der sie sich der ausgestreckten Hand des Todes zuwendet

Nie darf ich grübeln über all die möglichen Fatalitäten, oder ich bekomme es mit einer großen Furcht zu tun, die mir den Hals zudrückt.  “Nun nach [Peters Tod] bin ich gewappnet für alles. Die Angst vor dem Schlag im Leben, die ich oft fühlte, war nun vorüber. So, nun ist es geschehen, schlimmer kann es nicht kommen.” Der Schlag im Leben, ich rechne fest damit, aber wann? Ist es nutzlose Panik? Ist es Angst vor der Machtlosigkeit, dass das Leben eben geschieht, ohne dass meine schützende Hand irgendeine Wirkung hätte? Käthe selbst hat zugestimmt, den Sohn an das Feld zu geben. Zu Lesen aus ihren eigenen Worten, wie sie verliert und bereut...  Sie hat ihre Aufgabe verstanden und mit großer Anstrengung erbracht. Ob ich meine Aufgabe vollenden kann, wenn mich der Schlag trifft und ich vor Trauer nicht leben kann?

Kaum ein Tagebucheintrag vergeht, ohne dass nicht vom Tod eines jenigen berichtet wird, beginnend schon in jüngsten Jahren mit dem Geschwisterkind Benjamin, dem Sohn Peter, Konrad und Mutter, Freunde und Familie, die vielen Kollegen, schließlich Karl. Viele Suizide. Bald werden es beiläufige Berichte, kurze Nebensätze, manchmal einige melancholische Worte. Käthe selbst hat den Tod herbeischreiten sehen, ihm die Hand gereicht und so kam es dann. Ehrfurcht überkommt mich im Anblick dieser Jahrzehnte, zusammengefasst auf ein paar Seiten in meiner Hand, noch nicht runzlig wie ihre. Mir wird bewusst, dass ich gerade ein Leben lebe. Und dass es vorbeiziehen wird. Ich sehe eine Strecke vor mir, sehe, dass ich gerade an einem Punkt an dieser Strecke stehe, dass der mir gehörige Zeitstrahl doch aber irgendwann sein Ende finden wird. Nicht nur für mich — für alle, für jeden einzelnen. Das erste Mal bin ich mir dessen so deutlich bewusst, und ich werde beklommen durch diese monumentale Erkenntnis. Was wird bis dahin geschehen?

“Vor kurzem träumte ich, daß ich mit andern zusammen in einer Stube war. In der Nebenstube wußte ich lag Karl. Beide Stuben öffneten sich nach einem unbeleuchteten Hausflur. Ich ging aus meiner Stube heraus auf den Flur, da sah ich, wie die Tür nach Karls Stube aufgemacht wurde und hörte ihn sagen mit seiner freundlichen, liebevollen Stimme: ‘Kommst Du mir nicht noch Gutenacht sagen?’ Dann war er herausgekommen und lehnte an der Wand und ich stand vor ihm und legte meinen Körper an seinen und wir hielten unsere Hände und fragten uns immer wieder: ‘Wie geht es Dir? Geht es dir auch wirklich gut?’ Und waren so glücklich uns fühlen zu können.”