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Eine digitale Collage vieler Schnipsel in den Farben Blau und Orange

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NACHGEDACHT
30. SEPTEMBER 2022

Der Siegeszug
Orange-Blau

Goethe und Itten drehen sich in ihren Gräbern um. Andy Warhol sagt: “Sie müssen sich von den kleinen Dingen, die Sie normalerweise langweilen würden, plötzlich begeistern lassen.” Und ich? Sitze hier und schreibe einen sehr langen Artikel über die einfachste Sache der Welt: Orange und Blau, die Farbkombination. Ja, genau. Es begann als kleine Wahrnehmung, hey, irgendwie sieht heutzutage alles gleich aus, findest du nicht auch? Dann wurde es zum Witz unter Kollegen und Freunden, guck mal da, schon wieder.

Werbeplakat des Films "Die Bourne Identität"
Quelle: imdb.com
Werbeplakat des Films "Blade Runner 2049"
Quelle: imdb.com
Titelbild des Videospiels Portal 2
Quelle: amazon.de
Werbebild des Rasierherstellers Gilette
Quelle: gillette.de
Werbebild des Getränkeherstellers Lipton Eistee Zitrone und Pfirsich
Quelle: amazon.co.uk

Auf einmal kann ich mich selbst schon gar nicht mehr leiden, wenn ich die zwei Flecken nebeneinander auf meiner Palette entdecke. “Das ist doch nur Vanilla, damit man niemanden verscheucht, maximale Zielgruppe gleich maximaler Umsatz”, sagte ich im Brustton der Überzeugung. Ich bin doch kein Trittbrettfahrer! Gibt es nicht schon genug einfallslose Kinoposter, genug geschmacksverirrte Werbe-Milieus, genug! Wie lieblos, wie langweilig. Nicht mit mir. Ich bin nämlich originell, genau. Eine leise Stimme im Hinterkopf fragt mich: wie originell kann man denn sein, wenn man das Ur-Gestaltungsmittel restlos aus seinem Repertoire streicht? Das kann nicht die Lösung sein.
Fakt ist, Emotionen und Farben sind eng verbunden. Das eine kann man ohne das andere kaum untersuchen. Zwar berührt die Farblehre peripher auch Physik und Chemie, aber am wichtigsten für uns Künstler ist daran doch das eine: nämlich die physische und psychische Wahrnehmung der Farben. Kann es sowas überhaupt geben, eine allgemeine Farb-Apathie? Neben Medien und Formen sind Farben die wichtigsten Ausdrucksmittel des Künstlers. Sie generieren eine Reaktion, sei es nun Attraktion oder Aversion, bewusst oder unbewusst. Ich möchte meinem Vorurteil auf den Grund gehen und neue Assoziationen schaffen, damit ich mich versöhnen kann mit Blau und Orange. Jetzt bin ich neugierig, und als Ergebnis kannst Du nun diesen Artikel über das Ergebnis meiner Ausuferungen lesen.

Eine digitale Collage von Zeichnungen mit orangen Erdpigmenten, Kuh und Kuhschädel

Was ist das überhaupt, so grundsätzlich gesehen, Orange, Blau?
Schon sprachlich lässt sich über die beiden Farben viel zusammentragen. Die Farbe Orange hatte ursprünglich keine Wertung im Einzelnen, sondern definierte sich situationsbedingt entweder als Gelb oder Rot. Erst nach der Normalisierung der leuchtenden Zitrusfrüchte in Europa erhielt die Farbe ihre eigenständige Charakterisierung in unserer Kultur. So viel also zu der Frage mit dem Huhn und dem Ei. 
Auch die Farbe Blau war nicht immer eindeutig. Es gibt zahlreiche Unterschiede in der Wahrnehmung verschiedener Völker, beispielsweise gibt es Kulturen, in denen semantisch keine getrennte Ausweisung von Himmel und Meer stattfindet. Manche erkennen in Blau ein Spektrum über Violett bis Schwarz. Es gibt sogar einen ganzen Wikipedia-Artikel dazu: Grün und Blau in verschiedenen Sprachen

Ein dramatischer Himmel voller Wolken zu SonnenuntergangNahaufnahme eines Eisvogels, auf einem Ast sitzendNahaufnahme von BlaubeerenFoto eines blauen Schmetterlings, auf Laubblättern sitzendNahaufnahme einer Flamme eines Camping-Feuersverfärbtes HerbstlaubPorträtfoto eines Mädchens mit Sommersprossen, blauen Augen und roten Haaren

Beide Farben sind anthropologische Konstanten, die die Naturdarstellung der Menschen bis heute formen. Unsere Welt ist Orange und Blau. Das warme Licht des Feuers und der Sonnenauf- und untergänge dirigiert den täglichen Lebensrhythmus, die Verfärbung der Vegetation im Herbst leitet die Jahreszeitenwende ein; stets begleitet vom blauen Himmel und blauen Gewässer. Rost- und oxidrote Verfärbungen findet der Mensch in Erde und Stein, während Gebirge aus der Ferne blau verblassen. Orange und blaue Lebensmittel ernähren den Menschen: Blaubeeren, Weintrauben, Sanddorn oder der domestizierte Kürbis. Vor orangen und blauen Warn- und Tarnmustern der Fauna muss sich der Mensch in Acht nehmen. Spinnen, Skorpione, Frösche und Schlangen gibt es in beiden Ausführungen. Warnend oder anlockend sind auch die Orange und Blau blühenden Pflanzen der Welt oder, im modernen Alltag, Wegweiser und Lebensretter. Einige Menschen sind sogar selbst Blau oder Orange, siehe die Sommersprossen und typisch nordische Rothaarigkeit oder die aufregende Mutation, mit der sich blaue Augen in der Welt verbreiteten.

Ein Rettungsring an einer RelingNahaufnahme einer Pfauenfeder, Fokus auf dem PfauenaugeOrange leuchtende Blüte einer LilieUnterwasseraufnahme von blauen Riff-FischenPorträtfoto einer orangenen Katzeein leuchtend blauer tropischer Frosch auf einem Ast
Höhlenmalerei eines Stiers in der Höhle von Lascaux
Malerei in der Höhle von Lascaux, Quelle: gouv.fr

Einen wichtigen Unterschied zwischen den Farben kann man jedoch im Zuge der gestalterischen Nutzbarkeit durch den Menschen ermitteln. Orange-rote Eisenoxidpigmente treten schon in den Höhlenmalereien des Urmenschen auf. Der Rötel ist eines der ältesten Zeichenmittel und basiert auf ockernen Erdpigmenten. Genutzt wurde der Sanguine von u.a. Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Rubens, Rembrandt.  Hingegen dauerte es noch bis zum Jahr 1704, ehe das erste moderne Kunstpigment, Preußischblau, erschaffen wurde. Zuvor war eine Blaue Farbe bezüglich eines gestalterisch nutzbaren Pigments historisch schwer erreichbar. Im weitesten Sinne könnte man primitive Tinten aus Beeren als blaue Farbe interpretieren, eigentlich machten aber die Mineralien Azurit und Lapislazuli den Anfang. Auch entstanden pflanzliche Färbetechniken durch Indigo und Waidblau. Bedingt durch seine Seltenheit war Blau quasi reserviert für die Darstellung heiliger, adeliger oder mythischer Personen wie den ägyptischen Göttern oder der heiligen Maria im Christentum.

Antike ägyptische Stele, bemalte Säule von ca. 825 v. Chr.
Saiah-Stele (ca. 825 v. Chr.)
Quelle: MET Museum
ägyptische Skarabäus-Nachbildung aus Lapislazuli, ca. 664v.Chr.
Skarabäus-Nachbildung aus Lapis-Lazuli (ca 664 v. Chr.) Quelle: antiquities.co.uk
Selbstporträt von Rembrandt van Rijn, ca. 1637
Zelfportret (Rembrandt, ca. 1637)
Quelle: Commons
Gesatteltes Pferd, Rötelzeichnung von Peter Paul Rubens von ca. 1615
Gesatteltes Pferd (Rubens, ca. 1615)
Quelle: Commons
Ölmalerei von Lisa Gawenda, zwei Äpfel und ein Kürbis auf gemusterten Stoffen

Und wie geht es weiter? Der Mensch läuft also aufrecht, verliert seine Haare, wird mündiger Bürger und industrialisiert sich. Wirft man einen schnellen Blick in die Kunsthistorik, lässt sich schnell feststellen: Die beiden Farben haben uns weiter begleitet. Die hier versuchte Auflistung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und dient nur als Ergebnis meiner Recherchen im Hinblick darauf, dass das Phänomen Orange-Blau keinesfalls ein modernes ist. Hier einige wahlweise Beispiele:

Romantische Landschaft mit Ruine, Gemälde von Carl Blechen von 1820
Romantische Landschaft mit Ruine
(Blechen, ca. 1820) Quelle: Commons

Romantik (1795-1835): Die Farbpalette der Epoche war vor allem durch die Inszenierung der Natur als Ausdruck leidenschaftlicher menschlicher Gefühlswelten geprägt. Einfühlsame Farben widerspiegeln die Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung und der verhässlichten, industrialisierten Realität. Farbverläufe im Himmel dienen als bedeutungsschweres Ritual oder emotionale Explosion.

Realismus (Mitte 19. Jahrhundert): Auch der russische Ilia Repin nutzt natürliche Farbgebungen wie einen zartblauen Himmel und weiche warme Sandküsten für sein Gemälde “Die Wolgatreidler”, doch nicht etwa, um seine innerliche Gefühlswelt zu veräußern, sondern um einen Kontrast zu schaffen zu den dunklen, schleppend schuftenden Arbeiterfiguren. Der deutsche Realist Adolph Menzel schafft ein ähnlich hartes Abbild seiner Zeit mit seinem Werk “Das Eisenwalzwerk”. Auch hier kämpfen die Arbeiter inmitten der hitzig glühenden Schmelzmetalle inmitten graublauen Rauchschwaden.

Die Wolgatreidler, Gemälde von Ilia Repin von 1870
Die Wolgatreidler (Repin, 1870)
Quelle: Commons
Das Eisenwalzwerk, Gemälde von Adolph Menzel, 1875
Das Eisenwalzwerk (Menzel, 1875) Quelle: Commons

Impressionismus
(zweite Hälfte 19. Jahrhundert):
Impressionisten entwickelten in ihrer Art zu gestalten eine damals neuartige Denkweise. Die Flüchtigkeit des Lichts, der Außenwelt und die damit verbundene Atmosphäre einer Szene verursachen einen Eindruck, der in der impressionistischen Malerei seine Abbildung proponiert. Orange und Blau waren wichtige Komponenten der impressionistischen Palette, die vor allem dazu dienten, das Chroma der Malerei zu erhöhen. Die gezielte Paarung mehrfarbiger Tupfer direkt nebeneinander erbrachte den gewünschten, flimmernden, leuchtenden Effekt. Häufige Motive sind warmes Sonnenlicht und kühle Schatten, blitzende Reflektionen auf Wasseroberflächen, bunte Felder und Wiesen, schimmernde Gestalten.

Impression, aufgehende Sonne, Gemälde von Claude Monet von 1872
Impression, aufgehende Sonne (Monet, 1872) Quelle: Commons

Expressionismus (1905-1925):
Das aufregende Mitteilungsbedürfnis der Expressionisten zeigt sich nebst Publikationen wie dem Blauen Reiter auch in der Farbwelt der Malereien. Die Darstellung subjektiver Sichtweisen erfordert selbstverständlich einen Bruch mit den Konventionen der Realität; so ist der Tiger nicht orange, sondern gelb, und er trägt seine zackigen Streifen nicht am Körper, nein, der ganze Tiger ist ein einziger klumpiger Zacken, umgeben von, ja natürlich, weiteren blauen Zacken. Franz Marc formuliert dazu: “Mischst Du Rot und Gelb zu Orange, so gibst Du dem passiven und weiblichen Gelb eine megärenhafte, sinnliche Gewalt, dass das kühle, geistige Blau wiederum unerlässlich wird, der Mann, und zwar stellt sich das Blau sofort und automatisch neben Orange, die Farben lieben sich."

Der Tiger, Gemälde von Franz Marc von 1912
Der Tiger (Marc, 1912) Quelle: Lenbachhaus

Surrealismus (seit 1920): Auch Surrealisten strebten nach neuen Perspektiven, nach einer Überrealität, einer Bewusstseinserweiterung in das Rauschhafte, in das Visionäre, das Befremdliche. Im Grundsatz basiert das surrealistische Motiv auf dem Überraschungsfaktor, hervorgerufen durch die Unmöglichkeit der Subjekte. Salvador Dalís Werk ist berühmt für seine optische Illusionen und Anderswelten. Ebenso ominöse Abstraktionen schuf der Dada-Künstler Max Ernst. Womöglich dient eine blau-orange Farbpalette als fast psychedelisches Stilmittel, einerseits zur Verstärkung sinnlicher Eindrücke als auch zur Betonung von Teil und Gegenteil. Aufgrund des Urheberrechts muss auf eine Bebilderung verzichtet werden, für Neugierige gibt es hier jedoch Links zu Darstellungen der angesprochenen Kunstwerke:

Beim ersten klaren Wort (Ernst, 1923) Quelle: Kunstbeziehung
Die Beständigkeit der Erinnerung (Dalí, 1931) Quelle: Singulart

Der Post-Impressionist Vincent Van Gogh gilt als Wegbereiter der modernen Malerei und betitelt den Königsposten des farbbedachten Malers. Seine Auseinandersetzung mit dem Thema Farbe ist Beweis einer einzigartigen gestalterischen Genialität:
"'Man muss die Liebe zweier Liebenden durch die Ehe zweier Komplementärfarben, durch die Mischung und durch ihre Ergänzung und die geheimnisvolle Vibration der verwandten Töne ausdrücken. Den Gedanken einer Stirn durch das Ausstrahlen eines hellen Tones auf einer dunklen Stirn ausdrücken; die Hoffnung durch irgendeinen Stern ausdrücken; die Glut des Wesens durch die Strahlen der untergehenden Sonne.' [...] In seinem Bedürfnis, dem innersten Eindruck Ausdruck zu verleihen, hat sich Vincent van Gogh an seinem eigenen Seelenzustand orientiert, ihn immer mehr Oberhand über die reale Farbgebung der Natur gewinnen lassen." (Quelle: farbimpulse)

Selbstbildnis mit grauem Filzhut, Gemälde von Vincent Van Gogh von 1887
Selbstbildnis mit grauem Filzhut (Van Gogh, 1887) Quelle: Commons

Mark Rothko, Vertreter des Abstrakten Expressionismus und Vater der Farbfeldmalerei, zeigt viele explizite Gegenüberstellungen der Farben Blau, Rot Orange in Übergröße mit dem Ziel der totalen Sinnesvereinnahmung. 

He wanted colour to dominate, and so would produce paintings that could stretch out beyond your peripheral vision, essentially allowing the artwork to completely take over your senses. There was no connection to reality within these paintings, it was for Rothko all about providing an experience to the viewer that they had never had before within an art gallery.” (Quelle: markrothko.org)

Untitled (Red, Blue, Orange), Gemälde von Mark Rothko von 1955
Untitled (Red, Blue, Orange) (Rothko, 1955) Quelle: Christies
Farbschlieren in Orange, Blau und Schwarz verlaufen ineinander

Man sieht, das Phänomen Orange-Blau ist anhaltend ausufernd.
Womöglich lässt sich immer so fort eifern.
Versuchen wir, ein kompaktes Fazit zu formulieren. 

Die Prävalenz dieser spezifischen Farbpalette ist keinesfalls ein modernes Phänomen, sondern ein kulturell nachweisbares Grundverhalten des Menschen. Kunsthistorisch betrachtet hat die orange-blaue Farbpalette rein gar nichts zu tun mit meiner Annahme einer von Emotionen getrennten, zum Profit geneigten Motivation. Im Gegenteil: der primäre Hintergrund besteht, wie so oft im Bereich der bildenden Kunst, mit der vornehmlich emotionalen Auseinandersetzung des Menschen mit sich und seiner Umwelt. Es lässt sich argumentieren, dass die gestalterische Verwendung von Orange und Blau eine logische Konsequenz der Existenz des Menschen ist, der die auf diesem Planeten gegebenen Ressourcen erkennt, sucht, entwickelt und sie nutzt, um sich, seine Erfahrungen und seinen Lebensraum abzubilden.
Die Kombination aus Primär- und Sekundärfarben ergibt Sinn als Progression der Farblehre. Weiterhin ist es nicht verwunderlich, dass die zwei häufig im natürlichen Alltag des Menschen vorkommenden Farben zwangsläufig aufeinandertreffen. Noch einleuchtender wird diese Feststellung durch die Einsicht, dass Orange als allgegenwärtige Urfarbe dem teuren Luxuspigment Blau zum Kontrast gegenübergestellt wird.

Die Vielfältigkeit der Anwendung durch die Epochen der Kunst hindurch zeigt, dass ein auf alle Zeit fortwährendes Potenzial zur Innovation besteht. Orange-Blau ist nie “tot”.
Die Farbkombination ist eines von vielen Stilmitteln. Zwar geschieht es in einzelnen Fällen, doch lässt sich grundsätzlich feststellen, dass es die inhaltliche Verbindung von Motiv, Stil, Intention, Anwendung und Persönlichkeit ist, die tiefere Bedeutungsebenen schafft. Es ist festzustellen, dass sich keine Deckungsgleichheit zwischen Kunstgeschichte und rein zweckmäßiger, kommerzieller Gestaltung herbeireden lässt. Doch zeigt die multiperspektivische Auseinandersetzung auf, dass eine Bewertung im Auge des Betrachters liegt.

Eventuell stellt sich nun die Frage: wie wird das Phänomen Orange-Blau in Zukunft aussehen?
Wenn sich doch zeigt, dass der orange-blaue Arm so weit in unsere Geschichte zurückreicht — inwiefern wird der Usus dann fortbestehen? Gibt es noch andere einflussreiche Farbkombinationen, die unsere Existenz beeinflusst haben und beeinflussen werden? Der Mensch entwickelt sich fort, forscht, entdeckt und gestaltet; ergo: welche Innovationen erwarten uns? 

Ich freue mich über Eindrücke des Lesers und verbleibe mit offenen Augen.